Francesco Masci: Die Ordnung herrscht in Berlin, Matthes & Seitz

[ { "attrs": [], "content": "Back to the real", "id": "_xtDI0BAf3", "type": "paragraph" }, { "attrs": [], "content": "Geschichte, schreibt Marx in seinem zentralen Kommentar zum Scheitern der franz\u00f6sischen Revolutionen, ereigne sich immer zweimal: das eine Mal als Tragodie, das andere Mal als Farce. Diese Farce, die reale Abgeschnittenheit der Menschen von einer friedvollen Verf\u00fcgung \u00fcber ihre Welt und der Gesellschaft in der sie leben, ist laut dem italienischen Soziologen Francesco Masci Signatur der b\u00fcrgerlichen Gesellschaften seit der franz\u00f6sischen Revolution, die nur die Bourgeoisie und ihre kapitalistische Produktionsweise an die Herrschaft brachte - ohne freilich die Idee einer Emanzipation aus heteronomen Verh\u00e4ltnissen ausmerzen zu k\u00f6nnen. Diese Idee wurde, so Mascis historisch-genetische Argumentation, an die Sph\u00e4re der Kultur abgegeben, depotenziert und fungiert nunmehr als Kitt, indem das Gl\u00fcckverprechen der Aufkl\u00e4rung zwar aufbewahrt, aber in eine fiktive Bilderwelt eingesperrt und damit eine reale Einl\u00f6sung in sozialen und politischen Zusammenh\u00e4ngen sabotiert w\u00fcrde. Folgt man Mascis, ist der Berlin-Hype der letzten Jahre die Speerspitze dieser fatalen Camouflage, die er in seinem Essay \u201eDie Ordnung herrscht in Berlin\u201d seziert. Die Herrschaft der \u201eabsoluten Kultur\u201d sei demnach als Geburtsfehler der b\u00fcrgerlichen Gesellschaften im 18. und 19. Jahrhundert auszumachen. Schon bei Thomas Morus befindet sich die Insel Utopia in einem absoluten Anderswo, das Versprechen eines gl\u00fccklichen Lebens erscheint in Distanz zur realen politischen Ordnung, deren Negation an die Entwicklung moralischer Urteile und die \u00dcbersetzung in \u00f6konomische Tauschwerte deligiert wurde.", "id": "_3MFb7mnrP", "type": "paragraph" }, { "attrs": [], "content": "In Berlin stellt sich in Mascis Augen die Gemengelage gegenw\u00e4rtig so da: tausende von \u201efiktiven Subjektivit\u00e4ten\u201d jagen einem Bild von Hedonismus, Selbstverwirklichung und Rebellion hinterher und werden durch die Realit\u00e4t tagt\u00e4glich L\u00fcgen gestraft. Die Leere und Dumpfheit eines Dienstags nach dem Berghain verm\u00f6gen die \u201eWegwerfpers\u00f6nlichkeiten\u201d als existenzialistische Nichtserfahrung auszucolorieren - indessen taumeln Mascis zufolge Bewohner, Touristen, Penner und Gentrifizierte nur noch durch eine geschichtslose Stadt, die l\u00e4ngst zu einem Museum seiner selbst geworden ist und wo selbst die erste Mai Krawalle noch dem Stadtmarketing zuarbeitet.", "id": "_MDuD6KusJ", "type": "paragraph" }, { "attrs": [], "content": "Mascis schrammt gl\u00fccklicherweise trotz wortgewaltigem Rekurs auf Nietzsche, Carl Schmit und selbst Spengler an konservativer Kulturkritik vorbei und stellt seiner perhorreszierten postmodernen Ein\u00f6de des zeitgen\u00f6ssischen Berlins auch nicht die roaring 20ies oder David Bowies Mauer West-Berlin gegen\u00fcber, sondern konstatiert vielmehr: \u201eDie \u00e4sthetische-nihilistische Pose des Berliner Underground der 70er und 80er Jahre wirkte ebenso zugunsten einer Austreibung der Politik wie die zur selben Zeit von den Stadtbeh\u00f6rden propagierte Fortschrittsbegeisterung f\u00fcr freie Entfaltung der Kultur. In der \u00fcbertriebenen Konsumfreude der Schaufenster am Ku\u2019damm und in den Kreuzberger Bars und Clubs experimentierte die absolute Kultur mit zwei komplement\u00e4ren Versionen \u2013 von weisser und von schwarzer Magie - ein und desselben Zaubers, den sie im Augenblick der Vereinigung der Stadt in gr\u00f6\u00dferem Ma\u00dfstab in aller Ruhe erneuern sollte.\u201d", "id": "_wjRooAMUB", "type": "paragraph" }, { "attrs": [], "content": "Dass O\u00b2 Arena und Berghain zwei Seiten derselben Medaille sind, mag nach einer Kritik der Kulturindustrie und des Spektakels ein alter Hut sein. Mascis Essay, dessen Titel eine Reminiszenz an eine der letzten schriftlichen \u00c4usserungen von Rosa Luxemburg vor ihrer Ermordung durch nationalistische Freikorps darstellt, gemahnt damit an eine Vergangenheit die unabgegolten ist und eine Zukunft, die die promesse du bonheur nicht in die Sph\u00e4re der Kultur verbannt, sondern in wirklichen sozialen und politischen Zusammenh\u00e4ngen und Praxen einfordert. Dass ein Testhandeln auch auf dem Berghainklo oder im Keller eines besetzen Hauses m\u00f6glich sein kann, weiss der Autor sicher selber - zu unterschwellig nostalgisch bleibt er im Ton.", "id": "_OUn4aSVtO", "type": "paragraph" }, { "attrs": [], "content": "Francesco Masci: Die Ordnung herrscht in Berlin, Berlin 2014, 108 Seiten, Matthes& Seitz, 14,80 Euro", "id": "_Qca5EKxbi", "type": "paragraph" }, { "attrs": [], "content": "(Isaak Osten)", "id": "_qNG4SionK", "type": "paragraph" } ]