Sergei Tretjakow: Fakten / Räume – Reiseskizzen 1925–1937, Spector Books

Sergei Tretjakow zählt als Literaturtheoretiker zu den führenden Vertretern der linken Kunst-Avantgarde. Dass er daneben auch einer der aktivsten literarischen Kartographen der frühen Sowjetunion und seiner asiatischen wie europäischen Nachbarn war, ist kaum bekannt. Beginnend mit einem anderthalbjährigen Aufenthalt in Peking 1925/1926 publiziert Tretjakow über den Verlauf eines Jahrzehnts elf Sammelbände mit Reiseskizzen und mehr als hundert Reisereportagen, die zu den wichtigsten Dokumenten der sowjetischen Geopoetik zwischen Avantgarde und Frühstalinismus zählen. Als politische Texte betreiben sie eine Neuvermessung der Landkarte des Sozialismus. Als literarische Texte experimentieren sie mit poetischen Hybridformen, die nicht nur passiv gegebene Verhältnisse abbilden, sondern aktiv auf eine veränderte Welt hinarbeiten. Am Kreuzungspunkt dieser Stränge entsteht schreibend und reisend ein textueller Raum, der weit mehr ist als eine bloße Transkription der jungen Sowjetunion.

Das sagen wir:

»Der russische Autor Sergei Tretjakow ist trotz seiner visionären transdisziplinären Arbeit als Literaturtheoretiker, Reiseschriftsteller, Protoethnologe und postcolonial writer avant la lettre ein - im deutschsprachigen Raum leider nahezu unbekannter - Vertreter der linken Kunst-Avantgarde der jungen Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre. Umso verdienstvoller die erstmalige Übersetzung ausgewählter Stücke aus den Reisetagebüchern in dieser – für spector books typischen - chic aufgemachten Anthologie, die zudem in einem umfangreichen Nachwort von Tatjana Hofmann und Susanne Strätling eine Einführung zur kulturhistorischen und gegenwärtigen Verortung des Autors bietet.
Lesenswert ist der Band, weil Tretjakow zunächst mit Witz und revolutionären Eifer, später in den 30er Jahren vermehrt auch parteipolitischen Ernst, lebendige und humorvolle Miniaturen einer bewegten Zeit - des Alltags, der Arbeit, der Kunst, der Kämpfe, der Hoffnungen und des Aufbruchs der Menschen zwischen den Weltkriegen zeichnen kann – vor allem in China und Russland, aber auch Deutschland und der Tschechoslowakei. Auch wenn Siegfried Kracauer nach dem Besuch eines Vortrags von Tretjakow in Berlin 1931 notiert, dieser gleiche einem „Funktionärstypos mit einem Schädel von harten Konturen, auf dem wie aus Protest gegen veraltete Formen der Schriftstellerei sämtliche Dichterlöckchen liquidiert sind“, überwiegt in den hier versammelten Texten der aufmerksame, empathische, spielerische und gewitzte Ton sowie filmisch-szenische Blick des Avantgardisten - was die Lektüre zu einem ausserordentlichen Vergnügen macht.
Diese Ambivalenz mag indes nicht zuletzt einen Blick eröffnen auf die Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten in der frühen Sowjetunion, die auch für ein Verständnis des heutigen Russlands nicht unerheblich sind.« (T)