Fatma Aydemir: Dschinns, Hanser
Dreißig Jahre hat Hüseyin in Deutschland gearbeitet, nun erfüllt er sich endlich seinen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Nur um am Tag des Einzugs an einem Herzinfarkt zu sterben. Zur Beerdigung reist ihm seine Familie aus Deutschland nach.
Fatma Aydemirs großer Gesellschaftsroman erzählt von sechs grundverschiedenen Menschen, die zufällig miteinander verwandt sind. Alle haben sie ihr eigenes Gepäck dabei: Geheimnisse, Wünsche, Wunden. Was sie jedoch vereint: das Gefühl, dass sie in Hüseyins Wohnung jemand beobachtet. Voller Wucht und Schönheit fragt "Dschinns" nach dem Gebilde Familie, den Blick tief hineingerichtet in die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte und weit voraus.
Das sagen wir:
»Eindeutig ein meiner neuen Lieblingsbücher! Die Geschichte spannt sich von Vater Hüseyins plötzlichem Tod an einem Herzinfarkt zu einem tiefen Eintauchen in das Leben der kurdisch-türkischen Arbeiterfamilie Yilmaz. Genauer gesagt in das Leben von sechs Menschen, die mehr oder weniger verbindet als der Begriff Familie fassen kann. Fatma Aydemir schreibt von Trauer und Sprachlosigkeit, Rassismuserfahrungen, kurdischer Identität, oder eben auch nicht. Von Emanzipation der Eltern und einem Suchen. Die Suche des jugendlichen Bruders Ümit nach Worten für sein Begehren, der ältesten Schwester Sevda nach Selbstständigkeit und einem Platz in einer Stadt, die sie samt des Mehrfamilienhauses, in dem sie mit ihren zwei Kindern und einem trinkenden Mann wohnt, lieber brennen sehen will. Der zweiten Schwester Peri nach Wegen, gegen vermeintliche Wahrheiten aufzubegehren oder erstmal überhaupt nach einem Sinn. Und des ältesten Bruders Hassan, zwischen all den Rollen, die diese Welt ihn einzustudieren zwang, nach sich selbst. Alle leiden sie unter dem Patriarchat, das ihnen die Worte verbietet, die sie bräuchten, um der Vereinzelung die Stirn zu bieten und das lässt nicht nur die Mutter Emine in eine tiefe Depression stürzen. Aydemir spricht selber davon, für jede Person den richtigen Sound treffen zu müssen (Missy Magazine 01/2022). Das ist ihr gelungen. Jeder Charakter bekommt eine eigene Sprache, jedes Kapitel diesen eigenen Klang, womit die Autorin eine unfassbare Nähe und Intimität zu jeder einzelnen Lebensrealität herstellt. Top Buch - und das nicht nur für die Abrechnung mit Nietzsche im Peri-Kapitel.« (B.)